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Album Info
Release Date: 2024-10-12Label: RecordJet
Oliver Augst und Marcel Daemgen neu interpretieren Lieder und Schlager aus der Zeit vor und nach 1945. Nach 25 Jahren und neun CD Alben mit deutschsprachigen Liedern zur Emigration und Widerstand handelt es sich dieses Mal um Lieder der Angepassten und Mitläufer aus der Zeit des Nationalsozialismus und im Wirtschaftswunderland der deutschen Nachkriegszeit.Auf der CD ist auch Pariser Pianistin Sophie Angel zu hören und Einspielungen des marburgjazzorchestra*. Beim Release-Konzert am 12.10.2024 in Wiesbaden wird auch noch der Schlagzeuger Jörg Fischer mit von der Partie sein.
Bei den Neu-Interpretationen von Augst & Daemgen geht es nicht um eine möglichst originalgetreue Nachbildung alter Vor- und Nachkriegsschlager Schlager, sondern vielmehr um eine musikalische Reflektion, eine seziergenaue Untersuchung auf den Knochenbau dieser Lieder und deren Texte. Improvisatorisch, experimentelle Formen bis hin zu punktgenauen Arrangements verfremden Lieder wie z. B. „Ein Lied geht um die Welt“ oder „Davon geht die Welt nicht unter“ bis zur Kenntlichkeit. Stilistisch zwischen Neuer Musik, Improvisation und Pop entstehen „neue alte Lieder“, verstörend, dunkel, schön und manchmal auch tanzbar.
In Augst & Daemgens Neu-Interpretationen soll deren monströse Herkunft erfahrbar werden. In dem Moment, wo sie gefallen könnten, müssen sie an die Finsternis der deutschen Vor- und Nachkriegszeit erinnern.
1. Lieder in der Zeit von 1933-1945
Viele der Lieder und vor allem die Schlager aus der Zeit des Nationalsozialismus haben scheinbar ganz selbstverständlich Eingang in das musikalische Repertoire der deutschen Nachkriegszeit bis heute gefunden. Ein genaueres Hinsehen ist schon nötig, um zu sehen, dass Lieder wie „So oder so ist das Leben“, „Nur nicht aus Liebe weinen“ „Bel Ami“ oder „Kauf dir einen bunten Luftballon“ in Nazi-Deutschland, zum großen Teil in den letzten Kriegsjahren geschrieben und sehr erfolgreich vermarktet wurden. Deren Musik ist nicht marschmäßig banal, sondern musikalisch auf durchaus gutem künstlerischem Niveau, sie enthalten keine plumpe Nazi-Propaganda, sondern tiefgründig ansprechende Texte, besonders im Vergleich zu Schlagern aus der heutigen Zeit. Sind sie also eigentlich nicht nur „unschuldiges“, sondern sogar erhaltenswertes deutsches Liedgut?
Bei wiederum genauerem Hinsehen fällt aber auch auf, dass diese gekonnt vertont und vordergründig harmlosen Botschaften der perfiden Absicht der nationalsozialistischen Machthabern entsprang, das geneigte Publikum zu zerstreuen und ruhigzustellen, um von der immer düster werdenden Realität abzulenken. Den MitläuferInen und WegschauerInnen sollte vorgegaukelt werden, dass die Welt in Deutschland entgegen allem anderslautenden Geflüster doch in allerbester Ordnung sei.
Mit dem Wissen, dass der heute immer noch beliebte, von Zarah Leander gesungene Schlager „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ aus dem Jahre 1942 stammt, erhält dessen Kernaussage eine ganz explizite Bedeutung. Die deutsche Wehrmacht hatte zu dieser Zeit in Russland bereits große Verluste erlitten und der Niedergang des deutschen Imperialismus zeichnete sich immer deutlicher ab. Zudem erfreut sich Zarah Leander auch im Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart einer immer noch großen Popularität, obwohl sie bis 1942 in Deutschland eine große Film- und Gesangskarriere machte und von Hitler und Goebbels sehr geschätzt wurde.
Sie sang 1942 auch das Lied „Davon geht die Welt nicht unter“. Die Texte beider Lieder schrieb der homosexuelle Bruno Balz während oder kurz nach seiner Folter-Haft im Gestapo-Hauptquartier – im drohte das Konzentrationslager. Erst durch die Intervention seines Mitautors Michael Jary, der vorgab, die von Goebbels für den Film geforderten Lieder als einen „Beitrag zur Kriegsanstrengung“ ohne die Hilfe seines Partners nicht zustande bringen zu können, kam Balz wieder frei.
Die Sängerin Hildegard Knef sorgte zusätzlich dafür, dass diese Lieder der gleichgültigen deutschen Nachkriegsgesellschaft ein willkommener Trost für die tief empfundenen unwillkommenen Veränderungen in Deutschland waren.
„Wahn und »Entwirklichung« ließen die Deutschen schließlich die Niederlage als »Zusammenbruch« erleben. »Die Befreiung von der Hitler-Diktatur wurde seelisch nicht gewollt.« (Hans Dieter Schäfer, in »Das gespaltene Bewusstsein)
2. Lieder der deutschen Nachkriegszeit
Die deutsche Nachkriegszeit der 1950er und 1960er-Jahre war dann geprägt vom Aufbruch in eine neue bessere Zukunft. Wirtschaftswunderland. Nach vorne schauen nicht zurück und wenn, dann, um die erlebte „Ungerechtigkeit“ an Deutschland die Bombenangriffe der Alliierten zu beklagen.
Dem alten deutschen Volkslied „Heile heile Gänsje“ fügte der singende Dachdecker Ernst Neger noch eine weitere Strophe hinzu:
„Wär‘ ich einmal der Herrgott heut‘,
dann wüsste ich nur eins:
Ich nähm‘ in meine Arme weit
Mein arm‘ zertrümmert Mainz.
Und streichelte es sanft und lind
Und sagt: „Hab doch Geduld.
Ich bau‘ dich wieder auf geschwind.
Du warst ja gar nicht schuld.“
In der Mainzer Fastnachtssitzung wurde dazu hemmungslos geweint.
Hier zeigt es sich ganz offensichtlich, dass die „normale“, der „normale“ Deutsche keine Schuld bei den Deutschen, sondern nur bei anderen (den Franzosen, Engländern, Russen, Kommunisten, Schwulen, den J ...) sah/sieht.
„Meine Mutter sagt: Ich bin ja normal.
Adorno sagt: Normal ist der Tod.“ (O. Augst)
Die Volksmusik verkam während der Nazi-Zeit zum Propagandainstrument, es war kein Leben mehr in ihr. Nach dem Krieg brauchte sie Jahre, um sich zu erholen. Was rasch wieder erklang, waren volkstümelnde Blasmusik, Dirndl-Schlager und Schunkellieder – Gute-Laune-Musik, die Schuld und Not vergessen half. Die Generation, die in dieser Zeit ihre musikalische Prägung erhielt, verlebt bis heute gern gemütliche Fernsehabende in öffentlich-rechtlichen Musikantenstadln. Der kategorische Imperativ dieser Sorte sogenannter Volksmusik heißt „Herzilein, Du darfst nicht traurig sein.“
Zerstreuung und Gleichgültigkeit ist seit 1945 hier das Programm.
Hannah Arendt notierte während eines Deutschlandbesuches im Jahr 1946:
„Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktionen auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine bewusste Weigerung oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Die Gleichgültigkeit, mit der sich die Deutschen durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert.“
3. Augst & Daemgens Neu-Interpretationen
Hier setzen Oliver Augst und Marcel Daemgen mit ihren Neu-Bearbeitungen dieser Lieder an. Mit dem Wissen über deren Herkunft und aus welcher Absicht sie in Auftrag gegeben wurden, ist es beiden nicht möglich sie einfach nur schön und ergreifend nachzuspielen. Schönheit vielleicht schon, aber ohne Beschönigung.
Oliver Augst: Die Arbeit an den Liedern basiert auf einem Grund-Misstrauen meiner deutschen Eltern/Großeltern-Generation gegenüber. Wie die alten Nazis unter dem Deckmantel der Biederbürgerlichkeit und Verständnisheischerei versuchten sie ihre Lebenswahrheiten in Legenden umzuschreiben. "Wir haben ja von nichts gewusst" "Wir konnten ja nichts machen" "Ich bin unschuldig, ich hätte ja gerne etwas getan, aber was kann schon der Einzelne tun gegen die da oben, dann hätte man mich ja auch ins KZ geschickt"
In den Neubearbeitungen dieser Lieder soll deren monströse Herkunft erfahrbar werden. In dem Moment, wo sie gefallen könnten, müssen sie an die Finsternis der deutschen Vor- und Nachkriegszeit erinnern. Nicht mehr und nicht weniger.
4. Biografien
Oliver Augst
Paris, Frankfurt, Ludwigshafen am Rhein
Musik-, Hörspiel- und Bühnenproduktionen, variable Ensembles und Kooperationen, internationale Konzerttätigkeit.
"Frankfurts zentraler Künstler im experimentellen Grenzbereich von Musik, Hörspiel, Literatur und Theater." (M. Pees, Berliner Festspiele)
"He is a musician that is crossing real boundaries. If you haven't heard of him, it's because he's crossed a boundary that matters." (Downtown NYC)
Marcel Daemgen, seit 1989 freischaffender Komponist, Produzent und Live-Musiker in den Bereichen Elektronik-, Bühnen-, Film- und Popmusik.
Gründungsmitglied des Frankfurter Künstler- und Produktionskollektivs textXTND.
Zusammen mit Oliver Augst und in Koproduktion mit dem Deutschlandfunk-Köln Veröffentlichung zahlreicher CD Alben, u.a. Arbeiterlieder auf „MARX“, Neubearbeitungen deutschsprachiger Volkslieder auf „An den deutschen Mond“, Lieder von Peer Raben auf „Fassbinder/Raben“, „DEIN LIED“, eingespielt mit dem Schlagzeuger Sven-Åke Johansson und den Gastsängern, Raymond Pettibon und Christian Anders und aktuell die CD WINTERREISE mit dem Gitarristen und Turntablisten Alexandre Bellenger
Seit 1990 zahlreiche weitere Produktionen u.a. mit:
dem Electronic Music Theater (u.a. mit Oliver Augst, Thomas Dési, Michaela Ehinger und Christoph Korn), der Band FREUNDSCHAFT, den Tänzern Christine Bürkle, Nik Haffner, und Stephen Galloway (Ballett Frankfurt), Alfred 23 Harth, Wolfgang Stryi (Ensemble Modern), Keiji Heino, (Tokio), Schorsch Kamerun (Goldene Zitronen), Raymond Pettibon (USA), Rüdiger Carl, Sylvi Kretzschmar und Camilla Milena Fehér, Sven-Åke Johansson und Jörg Fischer, John Birke, Brezel Göring ...
Zahlreiche Live-Auftritte u.a.:
Im Mousonturm und der Alten Oper, Frankfurt am Main / im 'Forum neuer Musik', Deutschlandfunk-Sendesaal, Köln / in Fylkingen, Zentrum für Neue Musik, Stockholm / in der 'Knitting Factory’, New York City / im Theatre des Amandiers, Paris / im Künstlerhaus, Wien im Rahmen des Festivals 'Wien Modern' / bei der 'Ars Electronica' und im Brucknerhaus, Linz / beim Jazz Festival 'San Juan Evangelista', Madrid / dem Festival 'Politik im freien Theater', Sophiensaele, Berlin / beim Schumannfest, Düsseldorf / beim Festival 'Steirischer Herbst', Graz / im Gare du Nord – 'Bahnhof für Neue Musik’, Basel / im TR, 'The Song Is You - Festival', Warschau / beim 'Resistance-Festival’, Stockholm / beim Donaufestival, Krems / im 'Forum freies Theater’ – FFT, Düsseldorf / im Theater an der Gessnerallee, Zürich / im DOM, Moskau ...
Zahlreiche Auftragsmusik für Theater- und Filmmusik
Hessische Filmpreise 1999 und 2000
Er lebt und arbeitet in Offenbach und Frankfurt am Main.
Augst & Daemgen sind Preisträger des Jugendtheaterpreis KARFUNKEL / 2018 der Stadt Frankfurt am Main
Sophie Agnel (* 1964 in Paris) ist eine französische Pianistin des Creative Jazz und der Improvisationsmusik, die insbesondere für die von ihr erweiterten Klangmöglichkeiten auf dem präparierten Klavier bekannt ist. Daneben setzt sie aber auch Synthesizer ein.
Agnel vertiefte ihr klassisches Musikstudium in Paris zwischen 1985 und 1989 mit dem Schwerpunkt Jazz und Improvisation bei George Russell und David Liebman, bevor sie 1991 in den Musikwissenschaften abschloss. Während des Studiums spielte sie mit ihrem Jazztrio, aber auch Chansons und afro-kubanische Musik. Seit den 1990er Jahren tritt sie einerseits als Solistin auf (etwa 2007 auf dem Total Music Meeting), arbeitet aber auch in Duos mit Bruno Chevillon, Paul Rogers, Phil Minton, Christine Wodrascka oder Catherine Jauniaux und in Trios mit Musikern wie Noël Akchoté/ Christian Rollet, Hélène Breschand/Thierry Madiot, Michel Doneda/Michael Nick, eRikm/Axel Dörner. Daneben spielte sie im Ensemble Archipel. Mit ihrem Qwat Neum Sixx (mit Daunik Lazro, dem Geiger Michael Nick und dem Live-Elektroniker Jérôme Noetinger) trat sie 2008 in Ulrichsberg auf. Weiterhin arbeitet sie regelmäßig mit Fabrice Charles, Jean Pallandre, John Butcher, Andrea Neumann, Rhodri Davies, Claire Bergereau und Ikue Mori.
Agnel legte weiterhin Alben vor mit Christian Brazier, Sunny Murray, Rasul Siddik, Lionel Marchetti & Jérôme Noetinger, Olivier Benoît (Rip Stop), Guillaume Orti, Christine Wodrascka, Pascale Labbé, Alex Grillo, Phil Minton sowie Martin Brandlmayr, Martin Siewert und Joe Williamson. 2014 holte sie Olivier Benoît ins Orchestre National de Jazz.
Sie war 15 Jahre lang als Musikpädagogin tätig, gründete an der Musikschule von Toulouse, wo sie ihren Lebensmittelpunkt hat, eine Improvisationswerkstatt und leitet auch in anderen französischen Städten Klassen für kollektive Improvisation (mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, aber auch mit weiblichen Gefangenen).